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City Magazin Wolfsburg - Sommer 2019

„Ein Gefühl, wie Kunst im Raum funktioniert“

„Ein Gefühl, wie Kunst im Raum funktioniert“

25 Jahre Kunstmuseum Wolfsburg und Premiere für Andreas Beitin als Direktor. Der promovierte Kunsthistoriker, der kürzlich mit zwei renommierten Preisen ausgezeichnet wurde, ist seit dem 1. April 2019 im Amt.Wie waren Ihre ersten Wochen an Ihrem neuen Arbeitsplatz?Sehr gut. Das ist einfach ein wunderbares Haus mit einem tollen Kollegenteam. Und wir haben viele schöne Projekte vor uns. Ich bin wirklich ganz begeistert.Auf der Homepage des Museums steht: „Kunst ist Wissen und Kunst ist Begeisterung“. Ist das auch Ihre Auffassung von Kunst?Ja klar, das Statement stammt ja von mir (lacht). Kunst soll Erlebnisse bieten, und zwar in jeglicher Form. Kunst kann und darf einem zunächst auch mal gegen den Strich gehen oder gegen Konventionen verstoßen. Es geht darum, mit dem Betrachter in einen Dialog zu kommen. Dann entdeckt er oder sie vielleicht auch Aspekte zu einem Thema, die ihm oder ihr vorher noch unbekannt waren. Richtig gute Kunst zeichnet sich dadurch aus, dass sie umso spannender wird, je länger man sie betrachtet.  

Eine Unterscheidung wie zwischen E- und U-Musik würden Sie also nicht treffen?

Es kommt weniger auf U oder E an, sondern auf Qualität. Diese Gattungsgrenzen lösen sich ja auch in der Musik auf. Ich habe vor Kurzem bei einem Konzert mit Werken von Astor Piazzolla in der Elbphilharmonie gesehen, dass sich die Dirigentin während eines Stücks zum Publikum umgedreht und es zum Mitklatschen aufgefordert hat. Das wäre früher ein Skandal gewesen. Heute geht das – zumindest bei Piazzolla (lacht). Natürlich bin ich an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Kunst interessiert, aber Kunst darf auch Spaß machen, zum Beispiel indem sie interaktiv ist. Es geht um Teilhabe, um Mitmachen.

Wollten Sie schon immer Direktor eines Kunstmuseums werden wie andere Kinder zum Beispiel Zirkusdirektor?

Nein, gewiss nicht. Als Jugendlicher habe ich zunächst einmal eine Ausbildung zum Gärtner gemacht, weil ich sehr naturverbunden war – und es auch immer noch bin. Aber beruflich habe ich mich dann doch umorientiert und mit 26 Jahren angefangen, Kunstgeschichte zu studieren. Das war eher eine intuitive Entscheidung. Ich dachte damals, das probierst du jetzt mal ein Semester lang aus und wenn es dir doch nicht gefällt, dann hörst du einfach wieder auf. Aber es war von Anfang an eine große Begeisterung und Liebe für die Kunst da.
  

Welche Rolle spielt Kunst in Ihrem Privatleben?

Es gibt fast kein Privatleben mehr (lacht). Ich bin auch privat natürlich viel in Galerien, Museen und Ausstellungen unterwegs, treffe mich mit Kuratoren und Künstlern. Mit einigen bin ich auch befreundet. Privates und Berufliches vermischt sich einfach. Da ist es auch egal, ob Wochenende oder Feiertag ist, weil es einfach Spaß macht. Oder um es anders zu sagen: Museumsdirektor ist eben kein „Nine to Five“-Job.

Muss man selbst Künstler sein, um ein Museum leiten zu können?

Nicht unbedingt, aber man sollte schon ein Gefühl dafür haben, wie Kunst im Raum funktioniert. Eine Klammer zwischen ganz unterschiedlichen Kunstwerken zu schaffen, um die Idee, die man verfolgt, verständlich zu machen, das hat auch etwas Kreatives, vielleicht sogar Künstlerisches. Man kann natürlich auch 1000 Schilder neben die Werke machen, um sie zu erklären. Aber eigentlich sollte es auch ohne funktionieren. Klappt natürlich nicht immer (lacht).

Gibt es Themen, die Ihnen besonders am Herzen liegen, die Ihrer Arbeit eine Richtung geben?

Es geht mir um Themen, die eine gesellschaftliche Bedeutung haben. Kunst kann sich heute nicht mehr erlauben, einfach nur schön zu sein und allen zu gefallen. Sie sollte auch ein gesellschaftlicher Kommentar sein, auch mal provozieren und verstören dürfen. Überlegen Sie mal, wie viele Kunstwerke anfangs massiv abgelehnt und heute wirklich geliebt werden. Gleichzeitig sollte ein Museum auch eine Art Schutzzone sein. Denn das Leben der meisten Menschen ist ja heute sehr durchgetaktet mit E-Mails, Tweets, Mobiltelefon und so weiter. Und in einem Museum kann ich mich einfach treiben lassen und mir etwas ansehen, ohne dass ich gestört werde. Kunst muss auf jeden Fall ihre Autonomie wahren. Und das Museum ist dafür der ideale Ort.

Welche Ausstellungen planen Sie gerade?

Zum Beispiel eine Lichtkunst-Ausstellung im nächsten Jahr: Vor der Elektrifizierung wurde Licht ausschließlich positiv gesehen. Heute sprechen wir von Lichtverschmutzung. Es ist ja fast überall und immer hell. Dabei brauchen alle Wesen den Wechsel von Licht und Dunkelheit, allein schon um gut schlafen zu können. Oder nehmen Sie das Scheinwerferlicht. Ein Schweinwerfer bestimmt, wer bedeutend ist und wer nicht, je nachdem wen er in Szene setzt. Das Thema hat ganz viele spannende Aspekte. Das Gleiche gilt für das Thema Kunst und Feminismus, zu dem auch eine Ausstellung geplant ist. Es geht dabei um Künstlerinnen als Rollenbrecherinnen, denn in der Kunst gab es schon Anfang des 20. Jahrhunderts Frauen, die sich sehr selbstbewusst präsentierten im Sinne der Emanzipation. Mein Lieblingsbeispiel ist Paula Modersohn-Becker, die bereits 1906 ein Selbstporträt mit nacktem Oberkörper geschaffen hat. Männer hatten zu dieser Zeit schon Hunderte Selbstakte gemalt, Dürer zum Beispiel. Aber dass es auch eine Frau wagte, war ein Skandal. In den 1920ern griff das auf die Gesellschaft über, emanzipierten sich Frauen, zeigten sich mit Kurzhaarfrisuren und in Hosenanzügen. Das war Feminismus pur, ohne dass man das so nannte. Die Kunst hat viele dieser Entwicklungen, die heute selbstverständlich sind, vorweggenommen. Auch das will ich mit dieser Ausstellung zeigen.

Was erwartet die Besucher außerdem?

Außerdem planen wir für 2022 auch noch eine Ausstellung zu Piet Mondrian. Da wäre er 150 Jahre alt geworden. Mit seiner abstrakten Kunst ist er einer der Urväter der Moderne. Kein anderer Künstler wurde so oft zitiert wie er. Und das nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Mode, der Architektur und im Design. Und die Idee des Kopierens und Zitierens ist heute so aktuell wie nie, ob es um Musik geht oder um Wirtschaft, denken Sie nur an Produktfälschungen aus China. Man kann sagen, wir leben in einer „Copy-andpaste“-Kultur.

Worauf freuen Sie sich besonders im Jubiläumsjahr?

Unter anderem freue ich mich auf das Jubiläumswochenende und meine erste Führung. Also keine Führung, die ich leite, sondern umgekehrt: Die Besucher führen mich durch die Ausstellung. Das Konzept habe ich schon in Aachen entwickelt und dort wurde es sehr gut angenommen. Es führt zu einem unkomplizierten Austausch auf Augenhöhe. Besonders spannend ist es, wenn Besucher ein Kunstwerk überhaupt nicht mögen. Dann reizt es mich besonders, das Werk zu erklären und über den gemeinsamen Dialog etwas zur Sichtweise des Künstlers beizutragen. Wenn die Menschen dann begeistert das Museum verlassen, ist das auch für mich ein schönes Gefühl. (aho)