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Frohe Weihnachten

Eine schöne Bescherung

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Meine Flüchtlingsfamilie Weihnachten 1954 in Westdeutschland. Das Mädchen in der Mitte bin ich. Tempelhof-Schöneberg, Westberlin; 1952

Findet mich der Weihnachtsmann überhaupt im Lager? Woher konnte er denn wissen, wo sich die zu beschenkenden Kinder gerade aufhielten? Dieses Problem bedrückte mich Siebenjährige seit einigen Tagen. Genau seit dem Zeitpunkt, als ich begriff , dass ich nie mehr in mein kleines Dorf an der Elbe zurückkehren würde. Voriges Jahr hatte der Weihnachtsmann noch Karin, die große Puppe aus Pappmaché, für mich gebracht. Als es zu spät war, stellte ich fest, dass sie nicht mitgenommen wurde. Ich drängte meine große Schwester, mit mir nach Ferbitz zu fahren und sie zu holen. Die Puppe würde stumm in ihrem Wagen liegen und auf mich warten, war ich mir sicher.

Christa Weniger

Und erst meine Freundin Heidi! Sie war sicher ebenso von unserer Trennung überrascht und traurig, wie ich es war. Hätten sie statt meiner Puppe lieber meinen Tornister zurückgelassen! Der war, obwohl erst drei Monate alt, völlig überflüssig während der nächsten Monate in den verschiedenen Flüchtlingslagern.
   

Die brennendere Frage waren zwei Tage vor dem Heiligen Abend jedoch die Geschenke. Meine Mutter beruhigte mich und sagte, dass ich bestimmt auch an diesem Weihnachtsfest Gaben erhalten würde, nur halt kleinere. Man müsse da schon bescheiden sein, weil der Weihnachtsmann ja alle Kinder des Lagers beschenken wolle. Aber es kam ganz anders.

In diesem Jahr kam zum ersten Mal das Christkind. Es beschenkte mich überaus reichlich – so viel habe ich noch nie zuvor und auch später nie wieder bekommen –, und zwar schon einen Tag vor dem Heiligen Abend 1952. Gerade, als ich mit meiner Familie im Lager an der General-Pape-Straße in Westberlin eintraf und wir uns in der Verwaltung registrieren lassen und auf die Zuweisung von Schlafplätzen warten wollten, kamen drei Schülerinnen den Gang entlang. Sie waren gut gekleidet und bestimmt doppelt so alt wie ich. Die drei Jugendlichen suchten ein Mädchen und einen Jungen aus dem Lager, die sie zu einer Weihnachtsfeier und Bescherung in ihr nahe gelegenes Gymnasium einladen wollten. Die Rote-Kreuz-Schwester drehte sich zu uns um und sagte: „Hier haben wir ja schon ein Kind in dem entsprechenden Alter!“
  

So wurde ich zufällig zu einer Hauptperson. Ebenso der Junge, der gerade über den Flur der ehemaligen Kaserne rannte. Er war auch etwa sieben Jahre alt. Wir wurden am nächsten Nachmittag von den Schülerinnen abgeholt und in eine Schulklasse geführt, aus der fast alle Tische und Stühle ausgeräumt waren. Ein bis zur Zimmerdecke reichender Weihnachtsbaum war im hinteren Teil des Klassenraumes aufgestellt. Als wir das Zimmer betraten, strahlte er in hellem Kerzenschein und war geschmückt mit Lametta und Strohsternen. Wir staunten.

Unsere Blicke blieben auf den vielen, bunten Päckchen haž en, die unter dem Weihnachtsbaum lagen. Wir ahnten, dass diese Päckchen für uns sein würden, zumindest hofften wir es. Bevor es in diesem Punkt Gewissheit gab, wurde Kakao getrunken und Blechkuchen gegessen. Danach führten einige Schüler ein Kasperletheater für ihre beiden Gäste auf. An den Spielverlauf kann ich mich kaum erinnern, nur, dass es an verschiedenen Stellen donnerte. Das laute Geräusch riss mich aus meiner Tagträumerei, während der ich o zu den Geschenken hinüberschaute und sich meine Gedanken mit dem möglichen Inhalt beschäftigten. Ich fragte mich, ob das große, knallrote Paket für mich oder für den Jungen war.
  

Eine schöne Bescherung-2
Grafik: © Ruangwit Yumui/123RF

Endlich war es so weit! Wir durften die Gaben auspacken. Was da zum Vorschein kam, konnte zuvor keinesfalls erahnt werden und übertraf die kühnsten Erwartungen! Ich hatte keinen Blick für den Jungen aus dem Lager. Mein ganzes Interesse nahmen meine Geschenke in Anspruch. Nach und nach kam eine Zelluloidpuppe in einer blauen Wiege, die mit Blümchen bemalt war, zum Vorschein, rot karierte Kissen lagen darin und sie hatte einen Himmel aus leichtem Stoff mit Rüschen. So etwas kannte ich noch nicht. Es sah traumhaft aus und ließ die Erinnerung an die zurückgelassene Pappmachépuppe fast vergessen. Eine weitere Puppe war etwas kleiner, hatte einen bräunlichen Teint, krumme Beine und war aus Porzellan. Sie trug einen Strampelanzug. Ich bekam noch einige mittelgroße Puppen und ein winziges Gummipüppchen in einem blaugrauen Sportkinderwagen aus Blech. Mehrere Gesellschaftsspiele und Kleidungsstücke für mein Alter konnte ich noch auspacken. An einen weißen Schal und einen gemusterten Pullover kann ich mich erinnern. Vor lauter Aufregung hatte ich rote Wangen. Insgeheim wünschte ich mir, dass von nun an immer das Christkind kommen möge.  
  

Als wir wieder ins Lager zurückgebracht wurden, bekam jeder von uns ein kleines Tannenbäumchen, das in einem Blumentopf steckte und mit Kerzen, Lametta und Strohsternen geschmückt war. Das Bäumchen wurde auf den einzigen Tisch unserer Kasernenstube gestellt und verbreitete Weihnachtsstimmung für alle der rund siebzig dort Einquartierten.

In diesem Jahr erlebte ich sogar zweimal eine Weihnachtsbescherung. Für die Flüchtlingskinder aller Berliner Lager richteten die alliierten Besatzer ebenfalls eine Weihnachtsfeier aus. Wir wurden mit mattgrünen Mannschaftsbussen zu einem riesengroßen Saal gefahren. Dort saßen an langen Reihen weiß eingedeckter Tische sehr viele Kinder und warteten auf Kakao und naschten Plätzchen. Die Tischreihen waren mit Tannengrün, Plätzchen, Äpfeln und Apfelsinen geschmückt. Manche Kinder sagten Gedichte auf, während sie auf der großen Bühne standen, wo sie ihre bunten Tüten, die mit süßen Leckereien gefüllt waren, in Empfang nahmen. Aber es bekamen alle Kinder die gleichen Geschenke – gleichwohl, ob sie Gedichte vortrugen oder nicht. Meine Anspannung löste sich, als ich meine bunte Tüte und ein Kinderbuch in den Händen hielt. Ich war selig. Zwei Bescherungen anlässlich eines Weihnachtsfestes!

So konnte es im „goldenen Westen“ weitergehen. Ich würde den Wechsel vom Weihnachtsmann zum Christkind bestimmt gut verkraften. Er war sowieso viel strenger. Künftig würde ich innig und mit aller Kraft meines Herzens an das geheimnisvolle Christkind glauben!