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Bokensdorf: „Heimat ist da, wo man Träume gehabt hat“

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Lorenzo Annese hat in seinem Leben ebenso viel erlebt wie erreicht. Foto: Nicola Paschinski

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, getreu diesem Motto lebt Lorenzo Annese. Der 82-jährige Bokensdorfer hat unerbittlich und teils unter harten Bedingungen für seine Ziele gekämpft. Mit Erfolg. Ohne Schulabschluss hat es der gebürtige Italiener als Schweißer im Rohbau ins Volkswagenwerk geschafft, war das erste ausländische Betriebsratsmitglied der Bundesrepublik, bis zu seinem Ruhestand Vertrauensmann für die Integration ausländischer Mitarbeiter. Außerdem hat er in Deutschland seine große Liebe gefunden und schreibt gerade an den letzten Seiten seiner Autobiografie.Die unbefriedigende Arbeitssituation der Nachkriegszeit in seiner Heimat im süditalienischen Apulien veranlasste Annese, in die Bundesrepublik zu kommen. 1958 kam der damals 20-Jährige Apulier nach dreitägiger Zugfahrt in Wolfsburg an. „Mein Bruder und mein neuer Chef holten mich ab“, erzählt Annese. Ziel war Bokensdorf mit damals 300 Seelen. In der Landwirtschaft fehlten Arbeitskräfte. „Es war keine Herzensentscheidung“, gesteht er. „Aber mein Heimatdorf Alberobello bot keine Perspektive mehr, statt Löhnen gab es für Landarbeiter etwas zu essen. Ich hatte sechs Geschwister. Da war ein Monatslohn von 180 Mark in Deutschland ein verlockendes Angebot.“

Lorenzo Annese veröffentlicht Autobiografie über sein bewegendes Leben

Im August 1961 begann der junge Italiener bei Volkswagen in Wolfsburg als Schweißer im Rohbau. Bokensdorf aber blieb sein privater Mittelpunkt. Dort lernte er auch seine spätere Ehefrau Frieda kennen. Nach und nach verwirklichten Annese und seine deutsche Verlobte ihren Traum vom eigenen Heim und begannen 1965, in Eigenleistung ein Haus zu bauen. „Mit Spaten, der Schubkarre meiner Schwiegereltern und ohne einen Pfennig von der Bank habe ich mit meiner Frieda das Loch für den Keller ausgegraben“, erzählt Annese. „Und auch wenn wegen der harten körperlichen Arbeit ein paar Tränen gelaufen sind, waren wir schon damals ein tolles Team!“ Dann folgten Hochzeit und Geburt der Tochter Ria.

Annese hat lediglich wenige Jahre und jeweils nur in den Wintermonaten eine Schule besucht, wo ihm nicht viel mehr als Lesen, Schreiben und die Grundrechenarten vermittelt wurden. In den Wirren der Nachkriegszeit war es wichtiger, die Familie zu unterstützen. So musste er in Italien als Achtjähriger als Tagelöhner in der Landwirtschaft arbeiten. Harte körperliche Arbeit war für Annese nie ein Fremdwort. Also hat der fast zierliche Italiener auch in Deutschland stets die Ärmel hochgekrempelt und zugepackt, wenn es darum ging, den Schweinestall auszumisten oder bei der Kartoffel- oder Heuernte zu helfen. In Wolfsburg lebte der Italiener anfangs eher provisorisch: auf einer Couch im Wohnzimmer der Schwester seiner Freundin. „Mein Glück war, dass wir nur mit Deutschen zu tun hatten“, so Annese. „Anfangs haben wir mit Händen und Füßen kommuniziert, aber nach und nach habe ich dann innerhalb von sechs Monaten Deutsch gelernt.“ Auch die Arbeit im Stückakkord in einem Kunststeinwerk mit Acht-Kilometer-Fußmarsch von Bokensdorf nach Fallersleben durch den Sumpf schreckte den willensstarken Italiener nicht ab. Doch immer war er da, der Traum, im VW-Werk arbeiten zu können.

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Foto: Privat
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Foto: Privat

Ein Schlitzohr auf Karrierekurs

Nach mehrfacher Ablehnung wegen unzureichender Qualifikation fasste Lorenzo Annese eines Tages einen Plan: „Ich nahm mir einen Tag Urlaub und ging zur Wache 17 unter dem Vorwand, das Werk zu besichtigen“, erinnert er sich mit einem Schmunzeln. „Dort habe ich mich dann aber schnell von der Besuchergruppe abgesetzt und bin schnurstracks in die Personalabteilung marschiert und habe nach einem Gespräch mit dem Chef verlangt.“ Gerade als man ihn im Vorzimmer erneut abwimmeln wollte, trat ein elegant gekleideter Mann in Erscheinung und fragte den „ungebetenen Gast“ nach seinem Anliegen.

Von der Schubkarre der Schwiegereltern können sich die Anneses nicht trennen. Zu viele schöne Erinnerungen hängen daran. Damit haben Lorenzo und Frieda den Aushub für das Kellerloch abgetragen.

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1962 begann VW, Arbeitskräfte aus Italien im großen Stil anzuwerben. „Da wurde ich als ‚Verbindungsmann‘ für meine Landsleute eingesetzt“, berichtet Annese. Er führte die neuen Kollegen ein und übersetzte. Zwei Jahre später wechselte er von der Produktion in den Betriebsrat: „1965 war ich das erste ausländische Betriebsratsmitglied in der Bundesrepublik.“ Die ARD kam damals zu Filmaufnahmen ins Werk. 1972 arbeiteten bereits 11.000 Ausländer in dem Wolfsburger Konzern. Bis zu seinem Ruhestand 1993 war Annese mit 200 Vertrauensleuten für die Integration dieser Mitarbeiter da. Die Veranstaltung gemeinsamer Feste von deutschen und ausländischen Familien gehörte auch dazu. „Wir haben uns politisch für Integration und gegen rechts engagiert“, betont der Bokensdorfer. Für sein berufliches Engagement ist Annese von seinem Geburtsland ausgezeichnet worden. Der italienische Staat verlieh ihm 1984 den Titel „Ritter der Arbeiter am Kreuz der Republik Italien“.

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Foto: Nicola Paschinski
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Foto: Nicola Paschinski

Zwischen Baum und Borke

Als er Rentner wurde, hat sich Annese in Bokensdorf politisch engagiert. Zwei Wahlperioden war er im Gemeinderat und parallel vier Jahre im Samtgemeinderat aktiv. „Ich war in beiden Fällen der erste ausländische EU-Bürger im Landkreis Gifhorn in solch einer Position“, sagt der Bokensdorfer stolz.

Anneseschafft es, seine italienische Herkunft zu pflegen und gleichzeitig fest in das deutsche Alltagsleben integriert zu sein. Bis heute liegt dem Italiener das Miteinander der Kulturen am Herzen. Oft steht er als Zeitzeuge für Gespräche mit Schulklassen oder für Fernsehreportagen zur Verfügung. Ansonsten widmet er sich am liebsten seinem Garten. „Das ist mein Paradies und war schon immer mein Ausgleich.“ Daneben pflegt Annese ein kleines Museum an Gegenständen aus Italien und Deutschland.

Obwohl Lorenzo Annese in Bokensdorf eine Heimat gefunden hat, ist er überzeugt: „Mit meinem erworbenen Wissen von heute würde ich es nicht noch einmal so machen. Man ist immer ein bisschen zwischen Baum und Borke. Heimat bleibt wohl die Stätte, wo man groß geworden ist, wo man Träume gehabt hat, und wenn man diese verlässt, ist es immer ein bisschen so, als sei man auf der Flucht.“

Übrigens: Über seine Erlebnisse und darüber, wie schwer es war, sich im kalten Norden, im Zwiespalt der Kulturen zurechtzufinden, mit welchen Vorurteilen er zu kämpfen hatte, hat der gebürtige Italiener jetzt eine Autobiografie geschrieben, die noch in diesem Jahr in italienischer Sprache veröffentlicht werden soll. Von Nicola Paschinski